3 Feb 2014

«Erst Obdach und dann sofort das Land» - Interview of Rajagopal by Dominik Gross in German

«Erst Obdach und dann sofort das Land» - Interview of Rajagopal by Dominik Gross in German

Author: Ekta Europe Admin  /  Categories: News  /  Rate this article:
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WOZ Nr. 05/2014 vom 30.01.2014

«Erst Obdach und dann sofort das Land»

Der Film «Millions Can Walk» zeigt, wie die indische Bewegung Ekta Parishad mit einem Marsch Bewegung in die Politik bringt. Anführer Rajagopal P. V. sprach mit der WOZ.

Von Dominik Gross (Interview) und Goran Basic (Fotos)

Der «Marsch der Gerechtigkeit»: «Wir wollten den Mächtigen sagen: ‹Wir werden so lange immer wieder kommen, bis sich etwas verändert›», erklärt Ekta-Parishad-Gründer Rajagopal P.V.

WOZ: Herr Rajagopal, nachdem im Oktober 2012 100 000 Landlose unter dem Banner von Ekta Parishad sechs Tage lang von Gwalior nach Delhi marschiert sind, versprach die indische Zentralregierung eine umfassende Landrechtsreform und den Landlosen Land. Mit diesem Erfolg endet auch «Millions Can Walk». Hat die Regierung ihre Versprechungen bisher gehalten?
Rajagopal P. V.: Achtzig Prozent der Vereinbarung, die der Minister für ländliche Entwicklung, Jairam Ramesh, und ich im Oktober 2012 in Agra unterzeichnet hatten, wurden in der Zwischenzeit von der Zentralregierung verabschiedet. Die Umsetzung ist aber Sache der indischen Teilstaaten. Das ist noch ein langer Weg.

Sind Sie enttäuscht?
Nun, in Indien erwarten wir grundsätzlich nicht viel von unserer Regierung. Wenn sie den Landlosen Land gibt, werden wir selbst für den Rest sorgen. Es geht darum, die Migration vom Land in die Slums der Grossstädte zu stoppen. Denken Sie an die Menschen, die entlang von Eisenbahnschienen oder Autobahnen in improvisierten Hütten leben: Ihr Unterschlupf kann durch die Behörden jederzeit zerstört werden. Sobald sie ein wenig Land und ein Obdach haben, haben sie auch eine Identität.

Der eigene Boden unter den Füssen ist die Grundlage für alles andere?
Ja. Die Familien können dann zum Beispiel an die Ausbildung ihrer Kinder denken. Wir sagen der Regierung: Gebt den Leuten zuerst Obdach, genug Land ist da. Dann kümmert euch um das Landwirtschaftsland. Es gibt in Indien ein Gesetz, das es einer einzelnen Familie verbietet, mehr als acht Hektaren Land zu besitzen. Dieses Gesetz wird aber dauernd verletzt. Um Kaffeeplantagen anzulegen, zum Beispiel. Viele Firmen kaufen Land, nutzen es aber nicht. Das Gesetz schreibt vor, dass ungenutztes Land nach fünf Jahren zurückgegeben werden muss. Es gäbe also Land! Für diese Umverteilung braucht es aber den entsprechenden politischen Willen. Diesen wollten wir mit dem Jan Satyagraha (Marsch der Gerechtigkeit) kreieren. Wir müssen den Druck nach wie vor hoch halten, deshalb sagen wir der Regierung: Wenn ihr nicht handelt, bekommt ihr bei den nationalen Wahlen vom kommenden Frühling unsere Stimmen nicht. Die Parole lautet: «Kein Land, keine Stimme.»

Rajagopal P. V., Präsident Ekta Parishad.

Das indische Landrecht ist sehr verworren. Wie kann eine Adivasifamilie, in der niemand lesen und schreiben kann, ihre Rechte einfordern?
Die Leute sind sich der Ungerechtigkeiten meist bewusst. Die Behörden handeln allerdings sehr intransparent. Wenn die Leute realisieren, dass sie ihr Land verlieren, müssen sie sich einem Kampf stellen, der Jahre dauern kann. Ekta Parishad unterstützt sie dabei. Im zentralindischen Bundesstaat Madhya Pradesh brauchten wir zwanzig Jahre, um geraubtes Land den Landlords wieder zu entreissen und es der Dorfbevölkerung zurückzugeben. Es geht um Tausende Hektaren gestohlenes Land.

Was macht den Kampf so zäh?
Der Staat arbeitet für jene, die zahlen. Wenn arme Leute gegen multinationale Firmen und Landlords in einen Prozess ziehen, können sie sich keinen guten Anwalt leisten. Im Gerichtssaal treffen sie dann auf einen sehr einflussreichen, teuren Anwalt der Gegenseite, der womöglich auch noch den Richter gut kennt. So verlieren die Leute vor Gericht viel Geld, gewinnen aber selten ihr Land zurück.

Indien wird auf dem internationalen Parkett gerne als die grösste Demokratie der Welt gehandelt. Sehen Sie das auch so?
Die meisten Demokratien werden heute nur an mehr oder weniger freien Wahlen gemessen. In Indien steht den Bürgern nicht nur ein sehr korrupter Staats- und Justizapparat, sondern auch eine stark zentralisierte, autoritäre Wirtschaftselite gegenüber. Ein Staat mit einer Wirtschaft, in der Bürgerinnen und Bürger rein gar nichts zu sagen haben, ist keine echte Demokratie. Deshalb sollten wir überall auf der Welt auch die Wirtschaft demokratisieren.

Wie wollen Sie verhindern, dass die politischen und wirtschaftlichen Eliten das indische Landrechtsproblem weiter ignorieren?
Der Marsch hatte genau diesen Zweck. Wir wollten den Mächtigen sagen: «Ihr habt uns getäuscht. Aber jetzt sind wir wieder hier, wir singen, wir tanzen, und wir werden so lange immer wieder kommen, bis sich etwas verändert.» Damit drückten wir unsere politische Kraft aus und nützten den demokratischen Spielraum, den es in Indien trotz aller Fehler im politischen System gibt. In einer Diktatur wäre das nicht möglich gewesen. Unser Spielraum wird zurzeit allerdings eher kleiner.

Weshalb?
Die indische Regierung erhöht den Druck auf die sozialen Bewegungen. Internationale Organisationen, die die Zivilgesellschaft in Indien finanziell unterstützen, werden sanktioniert. Damit steigt unsere Abhängigkeit vom indischen Geld. Das fliesst aber vor allem in Wohltätigkeitsorganisationen, nicht in soziale Bewegungen und die politische Arbeit.

Was ist das Problem an der Wohltätigkeit?
Wir müssen unterscheiden zwischen Wohltätigkeit, Entwicklungshilfe und Emanzipation. Erstere schafft neue Abhängigkeiten und fördert die Ehrerbietung der Armen gegenüber den Vermögenden. Die Entwicklungshilfe wiederum verspricht Fortschritt. Sie lindert Not und verbessert Lebensverhältnisse. Organisationen der Entwicklungshilfe erreichen sogar, dass Leuten Land zurückgegeben wird, sodass sie sich selbst versorgen können. Sie wirken allerdings nicht emanzipatorisch.

Weshalb nicht?
Die Landlosen führen den Kampf um ihr Land nicht selbst. Sie werden nicht befähigt, die Entwicklungen um sie herum zu reflektieren. Der dritte Weg ist jener der Emanzipation. Das heisst: Man muss sich zuerst organisieren, bevor man um seinen Boden kämpfen kann. Jede Veränderung sollte ein Ergebnis der eigenen Stärke sein, nicht jener der Regierung oder irgendeiner Entwicklungshilfeagentur. Denn nur jene Gemeinschaften, die sich durch ihre eigene Stärke selbst helfen, sind auch fähig, ihre Ressourcen zu sichern, weil die Gründe für Armut und Unterdrückung gemeinsam reflektiert wurden.

Wie können wir in den reichen Ländern als ehemalige Kolonisatoren den Emanzipationsprozess unterstützen?
Zu einem emanzipatorischen Aktivismus gehört auch die Solidarität. Unsere Freunde vom Unterstützungsnetz Ekta Europe sind in diesem Feld aktiv. Gerade haben Hunderte Menschen aus Europa einen Brief an Jairam Ramesh geschickt, den Minister für ländliche Entwicklung, in dem sie ihn bitten, die am Ende des Marsches versprochenen Reformen endlich umzusetzen. Auch der Film, über den wir hier sprechen, ist ein Ausdruck von Solidarität. Und auch die Standing Ovations an der Weltpremiere von «Millions Can Walk» an den Solothurner Filmtagen ist ein Ausdruck dieser Solidarität. Es gibt viele Wege. Schauen Sie sich dieses Büro hier an, hier kümmert sich mindestens eine Million Menschen um mich! Lange haben sich viele von uns um einen Einzigen von euch gekümmert, jetzt machen wir es umgekehrt!

Spass beiseite: Was halten Sie von der Idee des westlichen Wohlfahrtsstaates?
Dieses Modell ist in den Krisenjahren an seine Grenzen gestossen. Es basiert auf Wachstum durch Konsum: Wie viele Autos, Kühlschränke und Computer sollen die Leute denn noch kaufen? Es herrscht seit Jahren Massenarbeitslosigkeit in Europa. Gleichzeitig haben die Leute vergessen, wie sie für sich selbst sorgen können. Wenn das Stipendium und die Pension garantiert sind, lernt man das nicht.

In Indien will der Staat als Folge des WTO-Abkommens von Bali Nahrungssicherheit garantieren. Lehnen Sie das auch ab?
Ich habe nichts gegen Nahrungssicherheit. Aber noch besser ist Nahrungssouveränität. Ich sollte das Recht haben, meine Nahrung selbst zu produzieren. Ich sollte nicht gezwungen sein, vor dem Laden der Regierung anzustehen, um drei Kilo Reis zu bekommen, genauso wenig, wie ich vor dem Sozialversicherungsbüro hier in Zürich stehen sollte, um nach meiner Pension zu fragen. In einer populistischen Agenda ist das alles gut und recht, aber macht es eine Gesellschaft stark?

Der Staat in einer funktionierenden Demokratie ist aber nicht irgendwer, sondern die Gesellschaft selbst. Letztlich entscheiden doch die Bürgerinnen und Bürger gemeinsam, was sie unter sich selbst verteilen wollen.
Aber nur so lange, wie wir die Theorie vertreten, dass Wohlstand in den Händen des Staats akkumuliert wird und zum Volk hinabrieselt. Mahatma Gandhi sah das ein wenig anders. Er wollte ein selbst regiertes, autarkes Land mit 500 000 Dörfern, vereint als Nation unter dem Namen Indien. Das war der Traum. Er hätte nie gedacht, dass uns alle unsere Ressourcen genommen werden und wir zu Bettlern vor dem Staat degradiert werden. Im Film sagt ein Satyagrahi, ein Anhänger der Ideen Gandhis, einmal: «Adivasi betteln nicht. Tiger essen auch kein Gras.»

Was ist die Alternative?
Wir müssen unseren Begriff des Glücks neu denken. Glück entsteht in zwischenmenschlichen Beziehungen, in der Spiritualität, Flüsse und Wälder sind Glück. Der grosse Korb des Glücks wird heute auf dieses kleine Ding reduziert, das wir Geld nennen. Und wir denken dabei immer noch kolonial. Die Briten hielten die indischen Stämme für dumm, weil sie Bäume, Schlangen und Vögel verehrten. Dieser alte Drang, andere verändern zu wollen, ist eine grosse Quelle des Unglücks. Es macht hingegen glücklich, wenn wir anderen ermöglichen zu sein, wer sie sein wollen. Die Adivasi sagen: Lasst uns alleine.

Rajagopal P. V. und Ekta Parishad

Nach Mahatma Gandhis Prinzipien

Ekta Parishad (Solidarischer Bund) gibt es seit 1991. Rajagopal P. V. (65) gehörte zu den MitbegründerInnen. Der Präsident von Ekta Parishad und Vizepräsident der indischen Gandhi-Peace-Foundation stammt aus einer Familie von Gandhi-AnhängerInnen im südindischen Bundesstaat Kerala. Der Agronom engagiert sich seit den siebziger Jahren für gewaltfreien Widerstand und friedliche Konfliktlösung. Seit über zwanzig Jahren setzt sich die Bewegung, zu der sich ungefähr 12 000 AktivistInnen zählen, für die Rechte der Ärmsten im Land ein. Dazu zählen vor allem Bevölkerungsgruppen wie die Adivasi (die Indigenen Indiens), die Dalits (die ehemaligen «Unberührbaren») und nomadisierende Bauern-, Wald- und Fischerstämme.

Ekta Parishad orientiert sich an der Philosophie des gewaltlosen Widerstands, wie sie von Mahatma Gandhi (1869–1948) formuliert wurde. Zu ihren Protestformen gehören unter anderem die langen Fussmärsche in der Tradition des indischen Unabhängigkeitskampfs der 1920er bis 1940er Jahre. In Hindi heisst ein solcher Fussmarsch Satyagraha (Kraft der Gerechtigkeit). Über einen Satyagrahi, einen Marschierenden, sagte Gandhi einmal: «Das Ziel eines Satyagrahi ist es nicht, jenen, der Unrecht tut, in die Knie zu zwingen, sondern ihn zu verwandeln.»

Ekta Parishad organisierte bisher – neben vielen kleineren – zwei grosse Märsche: 2007 den Janadesh (Verdikt des Volkes) und 2012 den Jan Satyagraha (Marsch der Gerechtigkeit). Ekta Parishad wird von zahlreichen Menschenrechtsgruppen in Europa unterstützt, die im Netz Ekta Europe vereint sind.

Der Dokumentarfilm «Millions Can Walk» von Christoph Schaub und Kamal Musale erzählt die Geschichte des Jan Satyagraha und einiger seiner ProtagonistInnen. Er war an den Solothurner Filmtagen (siehe Film-Beilage zu WOZ Nr. 4/14) zu sehen und läuft ab dem 30. Januar in den Schweizer Kinos.
Dominik Gross

Dominik Gross arbeitete im Rahmen eines Zivildiensteinsatzes von November 2012 bis August 2013 in Indien für Ekta Parishad als Texter und Kommunikationsmitverantwortlicher.
www.millionscanwalk-film.com www.ektaeurope.org

Link to the online article : http://www.woz.ch/1405/millions-can-walk/erst-obdach-und-dann-sofort-das-land
 

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